Statement der Demo-Sanitäter*innen zur Klimademo am 14.01.

Am 14.01. fand im Rheinischen Braunkohlerevier eine Großdemonstration mit ca. 35.000 Protestierenden gegen die Räumung des Ortes Lützerath und für Klimagerechtigkeit statt.
Zur aktuellen Diskussion um die Polizeigewalt möchten wir hiermit einen Einblick in unsere Arbeit geben, die Fakten benennen und schließlich die Fälle einordnen.
Insbesondere möchten wir dabei die systemischen Umstände kritisieren, die Polizeigewalt begünstigen und die Verhinderung erschweren.
Unser Konzept
  • „Demonstrations-Sanitäter*innen“ bieten qualifizierte medizinische Erstversorgung für alle Verletzten an, die im Umfeld von Demonstrationen Hilfe benötigen. Im Kontrast zum regulären Rettungsdienst sind wir bei Demonstrationen oder in Camps bereits vor Ort. Wir arbeiten ehrenamtlich und behandeln Patient:innen anonym. Das bedeutet, dass nur die für die medizinische Behandlung absolut notwendigen Informationen erhoben werden.
  • Für die Demonstration mit 35.000 Teilnehmenden standen wir mit einem Team von 49 qualifizierten Sanitäter*innen (NotSan, RettSan, RettH, SanH, Pflegefachkräfte), darunter 12 Ärzt*innen bereit.
  • Diese bildeten 18 mobile Teams, die den Demonstrationszug begleiteten und sodann drei stationäre Behandlungsplätze einrichteten. Darüberhinaus betreuen wir im Unser Aller Camp weiterhin rund um die Uhr ein Sanitäts-Zelt.
  • Bei der Demonstration selbst gestaltete sich insbesondere der Transport von den Feldern und Feldwegen zur weiterführenden Versorgung in umliegende Krankenhäuser als schwierig, da keine öffentlichen Rettungsmittel bereitgehalten wurden.
    Auch behinderte die Polizei teils die medizinische Behandlung, da Sanitäter*innen nicht zu verletzten Personen durchgelassen wurden.
  • Umso wichtiger ist es, dass wir als ausgebildetes Gesundheitsfachpersonal direkt vor Ort sein konnten, um diese Lücke in der Rettungskette zu schließen.
Bei der Klimademo waren also konkret als Sanitätsdienste vor Ort:
1) Wir Demo-Sanitäter*innen betreuten die 35.000 Demonstrierenden auf der gesamten Demonstration. Für den Transport schwerer verletzter Personen zogen wir über die Notrufnummer 112 den regulären Rettungsdienst hinzu.
2) Die Polizei hat einen eigenen Rettungsdienst, der sich vor allem um verletzte Polizist*innen kümmert und im Notfall auch bei Aktivist*innen aktiv werden kann. Problem hierbei ist jedoch der nicht-neutrale Hintergrund, sowie die teils schlechte Ausstattung der Rettungswagen. Auch stehen diese Sanis zumeist hinter den Linien der Polizei und somit weit entfernt von der Demonstration.
Fast alle Demonstrant*innen und Aktivist*innen wurden also durch unser Demo-Sani-Team behandelt.
Schweigepflicht
Die Schweigepflicht des behandelnden Personals ist seit über 2.000 Jahren die unabdingbare Grundlage für eine vertrauensvolle Ärzt*innen-Patient*innen-Beziehung und eine gute Behandlung.
Bei anderen Demonstrationen haben wir mehrfach erlebt, dass diese Schweigepflicht seitens der behandelnden Krankenhäuser gebrochen wurde und etwa Personalien oder gar Entlassbriefe an die Polizei weitergegeben wurden.
Im Fall Lützerath schilderte uns ein*e Aktivist*in die Herausgabe der Personalien vom Hermann-Josef-Krankenhaus Erkelenz an die Polizei wenige Tage vor der Demonstration. Nach Herausgabe der Daten ließ die Polizei sich eine Schweigepflichtsentbindung von der verletzten und in der Situation überforderten Person unterschreiben.
Die Polizei geht grundsätzlich davon aus, dass von der Polizei verletzte Aktivist*innen polizeiliche Anweisungen missachtet hätten und somit körperlicher Zwang verhältnismäßig gewesen sei. Häufig werden die verletzten Aktivist*innen also wegen „Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte“ angezeigt.
In dieser Logik ist die anlasslose Polizeigewalt, wie am Samstag, jedoch nicht berücksichtigt.
Wir bemühen uns daher unsere Patient*innen vor weiterer Repression zu schützen und ihnen dennoch die bestmögliche und notwendige medizinische Versorgung zukommen zu lassen. Zum Schutze unserer Patient*innen führen wir deshalb auch keine Statistiken und benennen keine konkreten Verletzungsmuster, die Rückschlüsse auf Einzelpersonen zulassen würden. Auch achten wir darauf, dass wir aufgrund oben genannter Schweigepflichtsmissachtungen den Krankenhäusern möglichst wenig detaillierte Informationen zukommen lassen.
Würden wir beispielsweise benennen 5 Handgelenksfrakturen und 2 schwere Schädel-Hirn-Traumata ins Krankenhaus geschickt zu haben, wäre es für die Polizei ein Anlass diese konkreten Fälle ausfindig zu machen.
Dass weder Polizei, noch Presse Zahlen oder Informationen über unsere Patient*innen bekommen, sehen wir somit als ein Qualitätsmerkmal unserer Arbeit.
Wir fordern die umliegenden Krankenhäuser und Rettungsdienste auf, die in § 203 StGB verankerte Schweigepflicht einzuhalten.
Kommentar zur Polizeigewalt
Trotz ausgiebiger Vorbereitung unseres Einsatzes und der teils langjährigen Erfahrung unserer Sanitäter*innen, waren wir überrascht und erschüttert von der Brutalität und enthemmten Gewalt, die wir von Polizist*innen gegenüber Demonstrierenden gesehen haben.
Es gab mehrere Schwerverletzte und zahlreiche Patient*innen mussten zur weiteren Behandlung ins Krankenhaus transportiert werden. (genauere Zahlen nennen wir, s.o., nicht). Durch die Vielzahl an gleichzeitig Verletzten mussten die Patient*innen zur Aufteilung der verfügbaren Rettungsmittel triagiert werden. Kennzeichnend für das Ausmaß der Polizeigewalt standen dabei unerwartet viele Verletzung von Kopf und Thorax, die zeigen, dass hier gezielt versucht wurde schwere und schwerste Verletzungen zuzufügen.
Es gab zwei Personen, deren Verletzungen wir präklinisch nach allen medizinischen Standards ärztlicherseits als potenziell lebensbedrohlich einschätzen mussten. Mit den im Krankenhaus verfügbaren diagnostischen Möglichkeiten kann diese Einschätzung reevaluiert worden sein.
„Ich habe mehr als doppelt so viele Schädel-Hirn-Traumata und Thoraxtraumata, sowie -prellungen behandelt, als Extremitätenverletzungen“, so ein Arzt aus dem Team, der anonym bleiben möchte.
Kommentar zu Herbert Reul
Herbert Reul forderte am Sonntagabend ihm „Beweise für Polizeigewalt“, Namen und Fälle zu nennen. Aus oben genannten Gründen werden wir dies nicht tun. Hingegen möchten wir ihn darauf hinweisen, dass die Polizei selbst zahlreiche Kameras im Einsatz hatte und er auf diesen Aufnahmen gewiss fündig werden wird, wenn es ihm darum geht Polizeigewalt in den eigenen Reihen zu beweisen.
Darüber hinaus erwähnte er, dass diese Fälle sodann geprüft würden und Polizist*innen, die sich nicht an die Regeln halten in einem Rechtsstaat „ein Problem bekommen“. Hier möchten wir Herrn Reul daran erinnern, dass es in NRW keine Kennzeichnungspflicht für Polizist*innen gibt und eine Identifizierung der „Einzelfälle“ nahezu unmöglich ist. Herr Reul selber hat die Kennzeichnungspflicht 2017 als „nicht sachlich vernünftig zu begründen“ bezeichnet und als eine seiner ersten Amtshandlungen abgeschafft.1
Dass eine Strafverfolgung und Verurteilung von Polizeigewalt in der Praxis nur in 1-2% der Fälle vorkommt, dürfte hinlänglich bekannt sein.2
Fazit
Wir verurteilen die Polizeigewalt, die im Rahmen der Proteste für Klimagerechtigkeit zum Vorschein gekommen ist auf das Schärfste.
Besonders fassungslos macht uns als Mediziner*innen die gezielte Gewaltanwendung auf Kopf und Gesicht, die wir so häufig behandeln mussten. Insbesondere da diese Patient*innen häufig keinerlei andere Verletzungen etwa an den Extremitäten aufwiesen, erscheint uns dies als systematisch. Es braucht keine medizinische Expertise, um zu erkennen, dass Kopf- und Gesichtsverletzungen unter Umständen dramatische Folgen für das weitere Leben der Betroffenen haben können und somit absolut unverhältnismäßig sind.
Darüberhinaus macht uns betroffen, dass die genannten systematischen Umstände Polizeigewalt begünstigen: Brüche der Schweigepflicht, Anzeigen durch die Polizei, fehlende Kennzeichnung von Polizeibeamt*innen, geringe Aufklärungsquote bei Polizeigewalt

Falls die Polizei gewillt ist Polizeigewalt entgegenzuwirken, weiß sie, wo anzusetzen ist.
Solange sich dies nicht ändert, wird es weiterhin zu Verletzten kommen und wir als Demo-Sanis werden weiterhin gebraucht.
Wir wünschen uns von der Polizei in unserer zukünftigen Arbeit zumindest nicht mehr behindert, sondern unterstützt zu werden. Die Polizei soll auf Verletzungen von Demonstrationsteilnehmenden bestenfalls verzichten.
Allen Verletzten wünschen wir baldige Genesung!