Anderer Ort, vertrautes Geschehen: „Übrig bleibt ein kleines, schwaches Licht in 15 Metern Höhe“ – Bericht von der Räumung im Dannenröder Wald

Es ist Samstag der 28. November 2020, kurz nach 7 Uhr in der Frühe. Wieder einmal starte ich an der Mahnwache Schmitthof nördlich vom Dannenröder Forst, um die Räumungsarbeiten des Tages zu beobachten und zu dokumentieren, wie seit zehn Wochen viermal wöchentlich, heute zum letzten Mal. Ein letztes Mal früh aufstehen, hinaus in die Kälte.

Der Dannenröder Forst ist seit dem Sommer 2019 besetzt, seit dem 1. Oktober 2020 wird geräumt und gerodet. Zuerst in den benachbarten Wäldern von Herrenberg und Maulbach, seit gut zwei Wochen auch in der Kernbesetzung im „Danni“, wie der Dannenröder Forst unter den Aktivist:innen und Unterstützer:innen genannt wird. Die Verlängerung der A49 soll dort gebaut werden. Eine Schneise wird geschlagen, quer durch ein Naturschutzgebiet, eine Trinkwasserschutzzone. Es gibt eine Räumung während einer Pandemie, im Angesicht einer schon rollenden Klimakatastrophe, damit ein Großkonzern eine eigene Autobahnzufahrt bekommt?

Vieles erinnert an die Räumung im Hambacher Forst gut zwei Jahre zuvor. Unvergessen sind das gewaltige Medienecho, der Todesfall des Kollegen Steffen Meyn, der vermeintliche Erfolg der Räumung, der Rodungsstop, die Wiederbesetzung. Politik und Polizei scheinen gelernt zu haben – oder auch nicht. Gleich geblieben sind die Versuche, den anwesenden Pressevertreter:innen ihre wichtige Arbeit so schwer wie möglich zu machen und die öffentliche Meinung mit polizei-eigener Pressearbeit zu lenken. Noch größer ist die Zahl der eingesetzten Hundertschaften, der Klettercops, der Räum- und Rodungsfahrzeuge. Es gibt Wasserwerfer, etliche Kilometer Metallzaun und Natostacheldraht. Geräumt wird täglich, auch an Wochenenden, ohne Pause, außer nachts.

Aber auch auf Seiten der Besetzer:innen gibt es neue Techniken. Nicht nur Baumhäuser in großer Zahl stehen auf der Trasse. Es gibt spektakuläre Aktionen – eine 300m lange Traverse wird quer über die nahegelegene Bundesstraße gespannt. Jeden Morgen sitzen junge Menschen auf Schaukeln („Swingforces“) in Bäumen, die vermutlich an dem Tag gefällt werden sollen. Menschen, die während der Hambiräumung meist noch zu jung waren, um sich selbst zu beteiligen, die vielleicht bei den kurz darauf gegründeten Fridays For Future zum ersten Male selbst aktiv wurden. Menschen, um deren Zukunft es geht. Entscheidungen wurden vor langer Zeit getroffen und legalisiert. Diese Menschen wurden nicht gefragt.

An den beiden Vortagen wurde die Festung Nirgendwo – ein Baumhausdorf im Norden des Dannenröder Waldes – geräumt. Unerwartet schnell, trotz etlicher Baumhäuser, Tripods, Lock-Ons und Sicherheitseinrichtungen, bei denen teils das Leben der Aktivist:innen buchstäblich an einem dünnen Faden hing. Wir waren erstaunt, dass es so schnell ging (immerhin waren gefühlt alle Klettercops Deutschlands im Einsatz), aber auch etwas erleichtert, da gewesen zu sein, nach monatelanger Vorarbeit.

Heute führt mich der Weg zum Highpod – einem 20 Meter hohen Baumstamm, der in 20 Metern Höhe auf einem Baum mitten auf der Trasse steht, befestigt an fünf umstehenden Bäumen, natürlich besetzt. Wenn die Autobahn gebaut werden soll, muss vorher dieser Baum gefällt werden. Und natürlich geräumt.

Am Vortag hatte die Polizei bekannt gegeben, diese Konstruktion sei unräumbar. Wieder ein kleiner Sieg für die Aktivist:innen? Aber es war gleichzeitig von einem Hubsteiger (Räumfahrzeug) gemunkelt worden, der seine Plattform auf die maximale Einsatzhöhe von 51 Metern bringen könne. Und Kolleg:innen hatten beobachtet, wie Einsatzkräfte den ganzen Nachmittag mit eben so einem Gerät Einsätze in großer Höhe geübt hätten. Das könnte also interessant werden.

Als ich am Highpod ankomme, sind die Swingforces schon bereit. Die Stimmung ist gut. Es wird vorgelesen. Marc Uwe Kling, Das Kängurumanifest. Irgendwo steht ein kleiner Tripod, ein Mensch liegt in fünf Metern Höhe in einem Netz. Kolleg:innen kommen kurz vorbei oder melden sich telefonisch. Irgendwo werden Barrikaden geräumt. Die Grüne Jugend besetzt in der Nähe eine Kreuzung. Im Süden wird schon wieder geräumt. Das klingt alles sehr spannend. Ablenkung vom gesteckten Tagesziel gäbe es genug, und noch ist ungewiss, ob hier überhaupt etwas passieren wird. Momentan wird vorgelesen. Ich bleibe.

Die Polizei folgt ihrem üblichen Tagesablauf. Gegen 7:30 Uhr erscheinen die ersten Einheiten, um sich ein Bild vom Einsatzort zu machen. Wie immer ist dieser Moment des Tages spannend. Trotz Presseausweis und durchweg guter Erfahrungen fühle mich sehr verletzlich, weil ich wieder der einzige Pressevertreter bin. Aber die Beamt:innen ignorieren mich, wie meist. Es sind nicht viele heute. Ob hier überhaupt was passiert? 300 Meter weiter wird bereits gewaltsam die Kreuzung geräumt. Vereinzelt sind Rufe zu hören. Videos erscheinen auf Twitter. Hier passiert nicht viel. Entspannte Beamt:innen gehen von Baum zu Baum und reden mit den Besetzer:innen. Es wird weiter gelesen. Keine Beschimpfungen, wie sonst. Kein „…sonst tret ich dir den Hals kaputt, du Wichser!“, wie von Klettercops noch jüngst in Nirgendwo vernommen. Kein „Tout le monde déteste la police“, wie neulich bei der Räumung des Baumhausdorfes Drüben. Zwei kleine Räumfahrzeuge tauchen auf, eine halbe Hundertschaft sichert die Räumung. Menschen werden geräumt, fast herunterkomplimentiert. Aktivist:innen und Beobachter:innen reiben sich verwundert die Augen. Heute bislang kein Herumgezerre, keine Schmerzensschreie, keine Schmerzgriffe wie sonst so oft. Das war‘s dann für heute?

Um 10:40 Uhr taucht dann ein neues Fahrzeug auf. Weiß-rot-blau lackiert. Ein großes „51m“ prangt mit großen Lettern hinten auf dem Kranausleger. Bingo! Also doch!

Schnell breitet sich die Nachricht im Wald aus, Kolleg:innen eilen herbei, auch parlamentarische Beobachter:innen. Während die letzte Person geräumt wird – sie hatte sich am Baum festgeklebt und schreit vor Schmerzen, als der Polizeisanitäter Azeton auf die Hand träufelt, um diese vom Baum zu lösen – wird der Hubsteiger gesichert und in Betrieb genommen.

Aus Sicherheitsgründen (heißt es) müssen wir die Position wechseln. Wie so oft in den letzten zehn Wochen. Einerseits steht Presse dann oft so weit vom Räumungs- und Rodungsgeschehen entfernt, dass eine Dokumentation nur sehr bedingt möglich ist. Andererseits wird dann in unmittelbarer Nähe der besetzten Bäume gerodet. „Selbst Schuld, wenn denen was passiert“, scheint das Motto zu sein.

Heute haben wir einen guten Blick auf Hubsteiger und Highpod. Über Stunden beobachten wir, wie die Plattform langsam hochgefahren wird, immer wieder stoppt, wieder ein Stück herunterfährt. Es scheint, als würden die Räumungsspezialist:innen gerade die Bedienungsanleitung erkunden. „Was passiert, wenn wir diesen Knopf drücken? Oh, also den besser nicht. Ok. Und was ist mit dem …?“

Aber Scherz beiseite. Diese Räumung ist sehr gefährlich. Wenn etwas schief geht, sterben Aktivist:innen. „Menschenleben sind das Einzige, vor dem die Cops noch etwas Respekt haben“, meinte ein Aktivisti als Begründung für den Bau immer riskanterer Konstruktionen. Für Menschen, denen es nicht „nur“ um einen Wald geht, sondern letztlich darum, die Zerstörung der gesamten Erde durch den Klimawandel zu verhindern, ist dieser Einsatz des eigenen Lebens nicht zu hoch.

Die Stimmung oben in 40 Metern Höhe ist noch gut, „bis auf kalte Finger“, heißt es auf Twitter. Auch unsere Hände frieren, aber wir wollen nichts verpassen, was hoffentlich nicht passieren wird. Durch die Äste und Kronen der Bäume, die den Highpod stützen, durch die Seilkonstruktionen, die ihn sichern, arbeitet sich der Hubsteiger langsam nach oben. Einmal bleibt er hängen, reißt sich frei, die Krone und der Highpod schwanken bedenklich. Ob es so eine gute Idee ist, da zu räumen?

Das scheinen auch die räumenden Cops zu denken. Sie fahren herunter, beratschlagen auf dem Boden. Bald wird es dunkel. Abbruch? Nach einer Viertelstunde ist klar: Es geht weiter. Diesmal fast in einem Schwung. Schließlich sind sie oben und holen eine Person von der höchsten Plattform. Das wars, nun wird der Baum gefällt? Ab nach Hause, endlich? Genug gefroren, gestanden, fokussiert auf Räumungsgeschehnisse, die zehn Stunden täglich überall gleichzeitig stattzufinden schienen?

Noch sitzt eine weitere Person in einem Nachbarbaum, in 15 Metern Höhe, gesichert nur durch Seile, die wiederum den Highpod sichern. Wenn hier irgendetwas gekappt wird, fällt dort die Person zu Boden und stirbt. Der Hubsteiger wird umgesetzt, Räumpanzer beleuchten die Szenerie. Ein Klettercop steigt hoch in Richtung Aktivisti.

 

Nebenan werden im Minutentakt Baum für Baum die großen Eichen und Buchen, die zum Barrio Nirgendwo gehörten, gefällt. Das ist ziemlich schwer zu ertragen. Kein Mensch sichert sie mehr, nur noch die einbrechende Dunkelheit kann die Zerstörung für ein paar Stunden aufhalten. Und hier sitzt noch ein Mensch im Baum.

Laut sind seine Warnrufe. Schließlich geben die Cops auf. Ob es die Sorge um die Sicherheit des Menschen ist oder die Sorge um den eigenen Ruf, der (nach zahlreichen schweren Verletzungen bei Aktivist:innen während der Räumung, die auf Handlungen der Polizei zurückzuführen sein dürften) bereits ziemlich gelitten hat: Die Räumtrupps ziehen ab. Wir bekommen noch einen letzten Stoß in den Rücken von einer nun doch schlecht gelaunten Polizeipressebegleiterin (die sich hier ansonsten korrekt verhalten hatte), dann wird es langsam dunkel im Wald.

Übrig bleibt ein kleines, schwaches Licht in 15 Metern Höhe.

Hier gab es an dem Tag keine Ingewahrsamnahmen, teils nicht einmal Versuche, die Personalien festzustellen oder das Kletterzeug mitzunehmen. Die Polizei verkündet auf Twitter stolz den Räumungserfolg. Eine Stunde später ist der Highpod wiederbesetzt.

Zum zweiten Mal und diesmal endgültig geräumt wird er dann am folgenden Montag. Als zehn Tage später das letzte Baumhaus im Dannenröder Wald fällt, bin ich schon lange im Warmen. „Keine halbe Stunde halte ich das aus“, war mein Gedanke nach den Erfahrungen der Räumung im Hambacher Forst in Bezug auf die anstehende Räumung im Dannenröder Wald. Nun waren es zehn Wochen zu je vier Tagen, zwölf Stunden täglich im Wald, insgesamt fast 200 Stunden Livestreams. Bis ich abschalten kann von der permanenten Aufmerksamkeit auf Dinge, die ich nicht verhindern kann oder muss (woran ich mich immer wieder neu erinnern muss), wird es noch lange dauern. Die Alltäglichkeit der lange miterlebten Gewalt ist durchdringend. Es war wichtig, sie erneut mitzuerleben, sie zu teilen und nicht einfach unbeobachtet passieren zu lassen. Die Rodung konnte nicht verhindert werden. Noch ist die Autobahn nicht gebaut. Die Debatte um Verkehrswende und Klimagerechtigkeit geht weiter.

Text und Fotos: Gábor Fekete