Schlagwort: Barbara Schnell
„Auf Gewalt war die Polizei vorbereitet. Auf Gesang nicht.“ Momente einer Räumung.
3. September 2018
Nachdem seit knapp zwei Wochen unter Klimaschützern die Gerüchteküche brodelt, mehren sich die Anzeichen, dass die Räumung der Baumhäuser im Hambacher Wald unmittelbar bevorsteht. Um die Medien auf Kriegsszenarien einzustimmen, präsentiert NRW-Innenminister Herbert Reul beschlagnahmte Waffen und gefährliche Gegenstände aus der Asservatenkammer und lässt die Presse in dem Glauben, diese seien bei einer Razzia in der vergangenen Woche gefunden worden. Aktivisten stutzen, weil sie glauben, die Fotos der Gegenstände schon einmal gesehen zu haben – und werden fündig in einem „Welt“-Artikel von 2016. Der WDR hakt nach, Minister Reul windet sich heraus: Er habe gar nicht den Eindruck erwecken wollen, dass das alles frische Funde sind, es sei nur um ein Bild des generellen Gefahrenpotentials gegangen.
5.9.
Im Wald beginnen die Vorbereitungen der Baumhausräumung mit einem Großeinsatz, bei dem die Bodenstrukturen der Baumhausdörfer (Küchen, Infostände, Kunst-Installationen) abgerissen werden. Auch Barrikaden werden geräumt. Dabei stößt man immer wieder auf mit Gaffertape umwickelte Pappkartons oder alte Feuerlöscher, an denen Zettel mit der Aufschrift „Sprengsatz. Don‘t Touch“ befestigt sind. Die Polizei schreibt in ihren Pressemitteilungen von Bombenfunden; das Dementi, dass es Atrappen sind, kommt meistens erst nach Redaktionsschluss bzw. wenn sich die Meldung als Schlagzeile manifestiert hat.
Seit Ende August steht an der Landstraße vor dem Hambacher Wald eine Mahnwache. Engagierte Menschen betreuen Spaziergänger, müde Aktivisten und Schaulustige. Ein Auto nähert sich, öffnet im Vorbeifahren die Fahrerscheibe und brüllt den am Boden Sitzenden zu: Ihr verdammten Ratten – vor den Augen der Polizisten auf der anderen Straßenseite, die allerdings gerade Wachablösung haben und sich ehrlich betroffen zeigten. Zwei Tage später wird – vor den Augen der Polizisten auf der anderen Straßenseite – aus einem vorüberfahrenden Fahrzeug des RWE-Werksschutzes eine halb volle Getränkeflasche in die Mahnwache geworfen. Es heißt, die Polizei hat die Täter schnell gestellt. Eine Pressemitteilung der Polizei gibt es zu dem Vorfall nicht.
8.9.
Die Rheinische Post berichtet nach „exklusiver“ Akteneinsicht, dass es im Wald ein Tunnelsystem „wie bei den Vietcong“ gibt, durch das Waffen geschmuggelt werden könnten und aus dem die Polizei jederzeit angegriffen werden könne. Die Polizei Aachen dementiert als einsatzleitende Behörde, dass diese Informationen aus ihrem Hause stammen oder dass sie je von einem Tunnelsystem gesprochen hat. Ist die Quelle erneut das Innenministerium, das nichts unversucht lässt, um in den Köpfen der Öffentlichkeit und der Polizisten vor Ort Gewalt-Szenarien entstehen zu lassen?
13.9.
Die Räumung beginnt. Allen Unkenrufen zum Trotz kommt es nicht zur Schlacht im Hambacher Wald. Der Widerstand der Baumbewohner ist lautstark, oft witzig, friedlich und weitgehend passiv. Vereinzelt regnet es nach Ansage Fäkalien auf die mit Maleranzügen geschützte Polizei, an einer Stelle fliegen Steine, auf einer Werksstraße gibt es laut Polizeiangaben einen dramatischen Zwischenfall mit einem improvisierten Geschoss, bei dem ein Polizist verletzt wird. Doch die Visionen der Horden von Gewalttätern, die der Innenminister in den Köpfen heraufbeschworen hat, werden nicht zur Realität.
16.9.
Tausende folgen der Einladung des Waldpädagogen Michael Zobel zum traditionellen Waldspaziergang, der erstmals „draußen bleiben“ muss. Die Polizei geht brutal gegen Demonstranten vor, die einen Erdwall besetzen, zieht sie an den Füßen herunter und setzt Knüppel ein. An anderer Stelle gelingt es hunderten, durch die Polizeiphalanx in den Wald zu laufen. Presse wird an der freien Bewegung gehindert. Insgesamt herrscht der Eindruck von Planlosigkeit bei den Einsatzkräften. Auf Gewalt war die Polizei vorbereitet. Auf Gesang nicht.
18.9.
Die Polizei, die Amtshilfe bei der Räumung leistet, weil die Baumhäuser nicht der Brandschutzverordnung entsprechen, steht überall mit laufenden Motoren im und vor dem ausgetrockneten Wald. Auf Nachfragen wird geantwortet, das sei nötig für die Energieversorgung der Kommunikationstechnik. An anderer Stelle lautet die Antwort, es sei ohne Klimaanlage im Wagen zu heiß.
Vor dem Wald brennt heute ein Stoppelfeld, in Brand gesetzt durch heiße Abgase eines Polizeifahrzeugs. Mit dem eigenen Wasserwerfer kann die Polizei den Brand zügig löschen.
In Gallien ist einer der Bewohner des Hauses „no names“ vor dem anrückenden Hubsteiger in den höchsten und letzten Winkel der Krone des Nachbarbaums geflüchtet … und droht zu springen (oder zu fallen, weil er erschöpft ist). Die Polizei übergibt den Einsatz an die Feuerwehr, die den Menschen nach anderthalb langen Stunden unverletzt herunterholt. Während in 25 Metern Höhe um ein Menschenleben gerungen wird, laufen auf dem Rest der Lichtung ungebremst die Kettensägen, aus großer Höhe knallen Baumhausteile und Inventar zu Boden. RWE ist nicht dazu zu überreden, wenigstens während der Rettung die Arbeiten einzustellen, deren Geräuschkulisse schon für die Beobachter schwer zu ertragen ist. Parlamentarische Beobachter sind zwar im Wald, aber nicht zu erreichen; die Einsatzleitung der Polizei sagt auf persönliche Anfrage, man werde die Bitte um Einstellung der Abbrucharbeiten „in die Überlegungen mit einfließen lassen“. Es ändert sich bis zur Rettung … nichts.
19.9.
Die Polizei erteilt Platzverweise an Aktivisten „bis Ende der Rodungsarbeiten“. Was will sie damit sagen? Dass jetzt im Moment keine Räumungs-, sondern doch schon Rodungsarbeiten durchgeführt werden? Oder dass sie etwas weiß, was die Öffentlichkeit noch nicht weiß, nämlich wie das OVG Münster in der Causa Hambacher Wald entscheiden wird?
Eine Polizeieinheit, die im Wald eine Wegekreuzung kontrolliert, berichtet, dass man sie nonstop aus Hamburg bis an diese Kreuzung gefahren und ihnen dort ihren kleinteiligen Einsatzauftrag gegeben hat, die Personalien vorbeikommender Menschen zu kontrollieren. Sie haben zwar im Vorbeifahren einen Schaufelradbagger gesehen, wissen aber ansonsten weder, wo sie sind, noch warum.
In Beechtown stürzt der Filmemacher Steffen Meyn von einer Hängebrücke und stirbt. Die Polizei räumt im benachbarten Cozytown noch einen Tunnel, weil sie die dort Angeketteten nicht über Nacht unten lassen will. Dann wird die Räumung vorerst abgebrochen.
20.9.
Menschen im Wald, die nicht nach Beechtown zur Unglücksstelle vorgelassen werden, setzen sich auf einen Hauptweg in der Nähe, um dort eine Schweigeminute abzuhalten. Polizei marschiert auf, fordert die Menschen auf, den Weg zu räumen, sonst werde man das „mit Gewalt“ tun. Parlamentarier kommen angelaufen, eine Deeskalation der Situation zwischen den singenden oder schweigenden Zivilisten und den aggressiven Uniformierten gelingt in letzer Sekunde. Die Schweigeminute beginnt. Polizisten stehen im Halbkreis vor den Trauernden und lachen auf sie hinunter. Nach etwa drei Minuten beschwert sich eine Polizistin, das sei aber eine lange Schweigeminute.
21.9.
Trotz des Moratoriums möchte die Polizei die Tripods und Barrikaden vor Lorien räumen, um Rettungswege freizulegen. Es kommt zu lebensgefährlichen Situationen für die Aktivisten, die in der Höhe die Arbeiten blockieren. Polizisten werden nach Vorwarnung mit Fäkalien beworfen. Die Polizei veröffentlicht Fotos von den verschmutzten Uniformierten, die diesmal keine Maleranzüge tragen. Die Feuerwehr macht sich ein Bild von der Lage und teilt mit, dass es genügend Rettungswege gibt. Der Einsatz kommt zunächst zum Halten.
22.9.
Ein Aktivist fragt vor Lorien in eine Polizei-Phalanx hinein, warum die Polizei überhaupt dort ist. Er wird festgenommen und lässt sich widerstandslos abführen.
Als Grund bekommt er auf seine weitere Frage, warum man ausgerechnet ihn zufällig herausgepickt hat, zu hören, weil er nun einmal gerade da gewesen sei. Hinter den Kulissen ringen drei Polizisten den schmächtigen jungen Mann zu Boden, werfen ihn auf den Bauch und legen ihm Handschellen an. Man zieht ihm seinen Klettergurt aus, tauscht die Handschellen gegen Kabelbinder aus lässt ihn in einen Gefangenentransporter steigen.
Die Pressestelle der Polizei ist nicht bereit, vor Ort etwas zu der Festnahme zu sagen.
Später ist zu hören, dass die Polizei angewiesen ist, Menschen mit Kletterzeug in Gewahrsam zu nehmen. Es gibt also doch einen offiziellen Grund für die Festnahme. Aber gibt es auch einen Grund für die Brutalität?
23.9.
Wieder strömen Massen zum Waldspaziergang. An einem Zugang kontrolliert eine Einheit bürgerliche Waldbesucher und schüchtert sie massiv ein. Einer älteren Dame wird eine Plane abgenommen, in die sie sich zum Schutz gegen den strömenden Regen gehüllt hat – man könne daraus ja Baumhäuser bauen. Wenn sie sich beschweren wolle, könne sie dies beim Bürgertelefon der Stadt Kerpen tun (welches an einem Sonntag natürlich nicht besetzt ist). Ihre Plane darf sie sich nach Beendigung der Räumung, Datum unbestimmt, im 30 Kilometer entfernten Aachener Polizeipräsidium wieder abholen.
Fünfzig Meter weiter öffnet ein Polizist mitten im Wolkenbruch das Fenster seines Mannschaftswagens und verteilt den Inhalt seines Lunchpakets an die Kinder der Spaziergänger.
24.9.
Die Bundespolizei macht im Wald Jagd auf eine Spaziergängerin, ringt sie zu Boden, fesselt sie mit Kabelbindern, obwohl sie sofort sagt, dass sie bereit ist, ihre Personalien anzugeben. Nach gründlicher Durchsuchung werden die Fesseln gelöst; die Frau bekommt einen Platzverweis. Presse wird auch bei solchen Vorfällen ruppig auf Abstand gehalten; immer wieder versuchen Polizisten, Fotografen zu erklären, wie sie ihre Bilder zu machen haben.
Anderer Ort, gleiche Uniform, anderer Mensch: „Ich weiß ja nicht, wie oft Sie Ihren Ausweis heute schon zeigen mussten, aber dürfte ich ihn bitte auch noch einmal sehen?“
25.9.
Obwohl die Aachener Polizei nominell die einsatzleitende Behörde ist, stellt ihr Präsident Dirk Weinspach in einer Erklärung an die „Aachener Nachrichten“ klar: „Dies ist nicht mein Einsatz.“ Den Namen des Innenministers nennt er nicht.
27.9.
Wer den Livestream der TAZ-Kollegin Anett Selle verfolgt, kann gegen zehn Uhr morgens beobachten, wie die Polizei vor dem letzten Baumhausdorf „Lorien“ eine friedliche Menschenkette in ein Schlachtfeld verwandelt. Auch Pressevertreter bleiben von der Brutalität nicht verschont. Noch Stunden später sitzen kreidebleiche Menschen in den Farnen und können auf Nachfrage nicht sagen, ob sie verletzt sind, weil der Schock ihre Körper betäubt.
Nachdem RWE am Vortag bereits ein mit zahlreichen Birken und Ebereschen durchwachsenes Farndickicht am Fuß einer „Lonely Oak“ genannten Eiche gerodet und für die räumenden Hubsteiger planiert hat, wird der gerodete Bereich heute bis an die Abbruchkante ausgeweitet. Die Bewohner von Lorien haben nun freie Sicht auf den Schaufelradbagger, der auf der anderen Seite der Tagebau-Umfriedung wartet. Einen Ansprechpartner von RWE, der erklären könnte, wozu diese zusätzliche, fußballfeldgroße Rodung nötig ist, gibt es vor Ort nicht. Angesichts des Umfangs der Fällarbeiten werden auch Polizeisprecher allmählich nervös. Einhalt gebieten können sie den Arbeiten jedoch nicht.
An anderen, längst geräumten Orten im Wald fahren RWE-Mitarbeiter unterdessen mit schwerem Gerät quer durch den Wald. Als Begründung geben sie an, Löcher an den Wurzelballen umgestürzter Bäume zuschütten zu müssen. Für BUND-Sprecher Dirk Jansen ist dies ein massiver Eingriff in das Totholz-Vorkommen, das für das Ökosystem Hambacher Wald so wichtig und so charakteristisch ist. Die Polizei erklärt sich für nicht zuständig. Das zuständige Umweltamt der Stadt Düren bittet Beobachter, mögliche Rechtsverstöße bei der Polizei zu melden.
Im Landtag NRW muss unterdessen Innenminister Herbert Reul zu den umstrittenen Polizeieinsätzen bei einer rechtsextremen Kundgebung in Dortmund und im Hambacher Wald Stellung nehmen. Obwohl er nicht selbst vor Ort gewesen ist, bezichtigt er laut dpa die Aktivisten in Beechtown, im Angesicht des sterbenden Filmemachers Steffen Meyn gerufen zu haben: „Scheiß ‚drauf, Räumung ist nur einmal im Jahr!“ Bei den immer noch traumatisierten Augenzeugen im Wald stößt diese Nachricht auf Empörung. Anett Selle, die während ihres Streams Augenzeugin des Sturzes wurde, schreibt den Innenminister via Twitter an: „Lieber @hreul, die Parole, die Sie zitieren, die gab es. Aber am Tag vor dem Absturz von Steffen Meyn. Nicht nachdem er stürzte. In Ihrem Bericht stehen folglich Unwahrheiten. Sie sollten ihn überarbeiten.“
Vierundzwanzig Tage, nachdem Herbert Reul mit der medialen Einstimmung auf den „blutigen Herbst am Hambacher Forst“ begonnen hat, äußern sich Polizisten vor Ort zwar angewidert über die Fäkalien-Attacken, aber auch erleichtert darüber, dass die Gewaltorgien ausgeblieben sind. Für die unredlichen Maneuver ihres Dienstherrn im Düsseldorfer Innenministerium können sie immer weniger Verständnis aufbringen. Sie möchten den Rechtsstaat verteidigen. Ob sie das im Hambacher Wald tatsächlich tun? Unter den Menschen in den Uniformen breiten sich Zweifel aus.
Rückblende: 28. August 2018
Auf der Wiese vor dem Hambacher Wald findet eine Razzia statt, die das „Material“ für die Waffen-PK und die Tunnel-Story liefern wird und in deren Verlauf die Polizei unter anderem die Bibliothek des Camps halb abreißen und dann mit Beton verfüllen lässt.
Der Polizist, der meinen Ausweis und Presseausweis kontrolliert, ehe ich zur Beobachtung des Geschehens vorgelassen werde, entpuppt sich während der Kontrolle als überzeugter Anhänger der AfD und ihrer demokratiefeindlichen Umtriebe. Als ich etwas geschockt den Pressesprecher der Aachener Polizei darauf anspreche, versucht er es erst flapsig: „Ach, das war bestimmt einer aus Rheinland-Pfalz.“ (Ein Blick auf‘s Foto zeigt: Nein, es war einer aus NRW.) Dann fügt er – diesmal ernst gemeint – an: „Die Polizei ist nun einmal auch nur ein Spiegel der Gesellschaft.“
Auch fast ein Dreivierteljahr nach diesen Ereignissen wirken all diese Momente nach. Erst jetzt kann ich einen abschließenden Satz für diese Sammlung finden. Nein, lieber medienarbeitender Kollege. Die Polizei darf kein „Spiegel der Gesellschaft“ sein. Sie ist eine Säule unserer Demokratie. Demokratiefeindliche Elemente haben in der Polizei nichts verloren.
Die Polizei muss besser sein als die Gesellschaft.
© Barbara Schnell 2018/2019
Making of Kleingartenverein: Vom Lachen in Beklemmung
Fast sechzig Jahre alt ist Yves Roberts Verfilmung des französischen Kinderbuchklassikers „Der Krieg der Knöpfe“, und wenn es darin eine Szene gibt, bei der jedes Lachen zu Beklemmung wird, so ist es die, in der die Jungen aus Velrans die Hütte ihrer Rivalen aus Longeverne anzünden, ehe sie sie mit einem Traktor vollends schleifen. Unnachahmlich tragikomisch erzählt der Film vom Kleinkrieg zweier Jungenbanden, der in den ausgewachsenen Streit ihrer Väter ausartet, bis die Explosion einer Handgranate für betroffenes Schweigen sorgt.
Lachen in Beklemmung ist auch das Gefühl, das eine Handvoll Klimaaktivisten überkommt, als ihr von Greenpeace ausgeborgter weißer Laster an einem Samstagnachmittag Mitte August 2018 von einem blauen Golf überholt wird, in dessen Rückfenster die Worte „Bitte folgen“ aufleuchten. Keine zehn Kilometer sind sie unterwegs, als ihre Tour auf dem Rastplatz Bedburger Land West ein kurioses Ende findet.
Aufgebrochen sind der Laster und eine Handvoll Begleitfahrzeuge auf dem Klimacamp im Rheinland. Es findet in diesem Jahr in Holzweiler statt, einem Stadtteil von Erkelenz, dem mit der rot-grünen Leitentscheidung von 2016 das fragwürdige Glück zuteil wurde, nicht im Braunkohle-Tagebau Garzweiler verschwinden zu müssen, sondern 100 Meter von dessen Kante entfernt stehenbleiben zu dürfen – eine Ironie des Schicksals, die das teilweise bereits aufgegebene Dorf kalt erwischt hat. Es ist das erste Mal, dass es dem Klimacamp gelingt, die Betroffenen vor Ort fest ins Programm einzubinden, Solidarität zu schaffen zwischen Anwohnern und den wohlmeinenden Zugereisten. Ein Symbol für diese Solidarität soll auch das Holzhäuschen sein, das auf dem Camp spontan geplant und gebaut wird, als die Nachricht eintrifft, dass nicht erst Ende September, sondern schon in wenigen Tagen die Rodungsvorbereitungen im 30 Kilometer entfernten Hambacher Forst beginnen sollen. Aktivistinnen aus dem Wald, die ihre Baumhäuser für ein paar Tagen gegen das Zeltlager auf dem Klimacamp eingetauscht haben, fertigen die Bauzeichnung an, begleiten den Materialeinkauf und stehen beim Bau mit Rat und Tat zur Seite. Menschen vom Camp schauen für ein paar Stunden zum Helfen vorbei oder begleiten das Projekt bis zur Fertigstellung mit ihrem handwerklichen Können. Den ganzen Samstag über verwandeln die Camp-Besucher das Häuschen in ein dreidimensionales Wandgemälde, bis viele Hände es schließlich auf den LKW laden.
Doch auch die Polizei hat Augen und Ohren auf dem Camp, und so ist es schließlich eine Übermacht von hundertdreißig Beamten, die auf dem Rastplatz die in Blockadehaltung vor der Hütte sitzenden Aktivisten von der Ladefläche des LKWs pflückt, das Häuschen unter Berufung auf das Landesforstgesetz beschlagnahmt und es in die Asservatenkammer des Aachener Polizeipräsidiums transportieren lässt.
Wie im guten Kinderkino hat die Aktion, die die Aktivisten prompt mit dem Hashtag #Gartenlaubengate in die sozialen Medien senden, für die Autoritäten ungeahnte Konsequenzen. Während sich auf Twitter und anderswo Hohn und Spott über die Polizei ergießen und bald eine Fotomontage die Runde macht, die die Laube im Garten des Aachener Polizeipräsidenten zeigt, schmuggeln die Klimaschützer im Schutz der Dunkelheit ein zweites Baumhaus an der Polizei vorbei in den Hambacher Wald. Dort bauen ihrerseits die Waldbewohner an einer weiteren Hütte – Plan B, falls auch der zweite Transport gestoppt wird. Doch das wird er nicht, und als am nächsten Morgen der Aachener Waldpädagoge Michael Zobel einige Hundert Interessierte auf seinem monatlichen Waldspaziergang durch den umstrittenen Forst führt, zieht die Waldgemeinschaft vor laufenden TV-Kameras gleich zwei Plattformen in die Bäume hoch.
„Nachdem wir gestern vergeblich auf unsere Freundinnen gewartet haben, haben wir uns schlafen gelegt, zum Einschlafen haben wir uns Geschichten vorgelesen, um uns zu beruhigen, und am Ende war nur noch die lebendige Stille des Waldes bei Nacht da“, liest eine Baumhausbewohnerin unterdessen vor – ein Text zur Aktion, auf Papierresten hastig verfasst, jedes Wort trifft ins Herz. „Ich lade alle ein, vorbeizukommen und in dem Haus zu verweilen, wann immer die Angst und die Zweifel in euch stärker werden als die Hoffnung. Dieser Ort soll uns daran erinnern, dass wir gemeinsam, entschlossen, kreativ und liebevoll eine Wahrheit erzählen, die das System aus Gier und Wachstumswahn zum Wanken bringt.“
Robin nennt sich die Zweiundzwanzigjährige, die im Herbst 2016 auf den Wald aufmerksam geworden ist. „Da hatte ich Abitur und FSJ hinter mir, hatte angefangen zu studieren … und dann haben mir Freunde von der Waldbesetzung erzählt. Ich habe angefangen, den Blog der Besetzer zu lesen, und habe dann die ersten Berichte von der Rodung gesehen. Ich war schockiert von diesem Bild, dass die Polizei diese Maschinen schützt – ein Bild, das zu meinem bis dahin vagen Gefühl passte, dass der Staat nicht dazu da ist, für gute Lebensbedingungen für alle zu sorgen.“
Die Neugier wuchs, und so fand sich Robin auf einem von Michael Zobels Waldspaziergängen wieder, der ihr zunächst den unverbindlichen Blick ermöglichte. Doch mit der Unverbindlichkeit war es schnell vorbei: „Ich habe in der Baumhaussiedlung Gallien gestanden, zu der Hängebrücke in den Wipfeln hochgeschaut, und die Entscheidung war getroffen. Es war so ein glückliches Gefühl, in diese Welt einzutauchen. Ich dachte zwar erst, ich schaue es mir nur an, aber dann habe ich schnell Menschen kennengelernt, bei denen ich mich wohlgefühlt habe, die einen Umgang miteinander hatten, wie ich ihn von außen nicht kannte. Die Kollaboration leben, nicht Konkurrenz.“
Der Klimawandel, so sagt sie, war ihr zwar bewusst, doch eigentlich war sie vor allem auf der Suche nach einem Ort, an dem „ich sozialen Wandel bewirken kann.“ Umgeben von einer Außenwelt, die den Waldbewohnern gern Realitätsflucht unterstellt, sieht die junge Frau das Leben im Wald als Feldversuch für ein respektvolleres Zusammenleben. „Ich habe hier viel mehr und viel nachhaltiger gelernt als in der Schule. Als ich hierher gekommen bin, konnte ich nicht handwerkern, nicht klettern, keine Plena moderieren und nicht in großen Gruppen über meine Emotionen reden.“ Heute trägt sie ihr Kletterzeug wie andere Menschen Schuhe, bedient sie den Akkuschrauber so geschickt wie den Stift, mit dem sie ihre Rede geschrieben hat, und dass man Situationen im Plenum erörtert, ist ein wichtiges Werkzeug des Alltags. „Wenn es keine Chefs gibt, die entscheiden, braucht man nun einmal viel Kommunikation.“
Doch so selbstverständlich, wie sie in zwanzig Metern Höhe Häuser baut, so selbstverständlich bewegt sie sich auch außerhalb des Waldes, in den sie nach mehrmonatiger Abwesenheit gerade erst zurückgekehrt ist. „Eigentlich hatten wir geplant, erst später zu kommen, aber dann stand auf dem Klimacamp plötzlich die Drohung der Räumung da. Es gab viele Ideen, wie wir mit dieser Situation umgehen könnten, aber wir haben uns dann entschlossen, sofort in den Wald zu gehen und ein neues Baumhausdorf zu bauen.“ Vierzehn Tage nach dem Gartenlaubengate schmiegen sich in der Siedlung rings um die beiden Ersatz-“Gartenlauben“, die sich augenzwinkernd „Kleingartenverein“ nennt, ein halbes Dutzend neue Strukturen in die Kronen der gewaltigen Eichen und Buchen, denen die Spuren des Dürre-Sommers deutlich anzusehen sind. Die Bauten sind improvisierter als die der älteren Dörfer und zunächst nicht für den Winter isoliert, aber immerhin erst einmal regenfest, konstruiert und bewohnt von Menschen, die wie Robin wegen der Räumungssituation gekommen sind. „Das ist einer der schönen Effekte der dezentralen Organisation hier im Wald. Jedes Baumhausdorf ist anders, aber in allen haben sich Leute zusammengefunden, die gemeinsame Ideen vom Zusammenleben haben.“ Im neuen Dorf gehört dazu Musik. Wann immer die zunehmend präsente Polizei den Besetzern eine Ruhepause gönnt, versammeln sie sich am Boden, und immer spielt jemand Gitarre oder Akkordeon, immer erklingt Gesang. „In unserer Kultur lernt man ja nicht mehr, gemeinsam zu singen. Wie schön es ist, Lieder auswendig zu singen, auch das habe ich hier gelernt.“
Wie es ausgehen wird mit dem Hambacher Forst, kann Anfang September 2018 niemand sagen. Doch ihre Vision für den September 2019 hat Robin klar vor Augen: „Der Wald steht noch, der Kohleausstieg wurde beschlossen und sofort umgesetzt, der Strukturwandel wird auf eine schöne Art gestaltet, und wir können den Hambacher Forst wieder sich selbst überlassen. Ich lebe in einem Projekt mit Menschen, die mir nahestehen, und wir tüfteln an einer gemeinsamen Ökonomie, die es uns ermöglicht, Vereinzelung und Konkurrenz aufzugeben.“
In Yves Roberts „Krieg der Knöpfe“ gibt es eine weitere prägnante Szene, in der Holzfäller an dem Baum sägen, auf den sich einer der Jungen in seiner Verzweiflung geflüchtet hat. Wenn es nach den Utopisten im Hambacher Wald und ihren Unterstützern geht, wird der Krieg der Bäume durch einen kunstvoll moderierten Dialog entschieden, damit es dort zu solchen Szenen erst gar nicht kommt.
(Text & Fotos: B. Schnell)
Was bleibt? „Ich kann selber etwas bewegen!“
Es ist das vierte Wochenende im September. Nach dem Tod des Filmemachers Steffen Meyn ruhen die Räumungsarbeiten im Hambacher Wald. Der Himmel hat sich zugezogen; der Altweibersommer weicht dem Herbst. Einige Baumhausdörfer sind bereits komplett geräumt, andere bereiten sich auf den Belagerungszustand vor. Im „Kleingartenverein“ am südlichen Waldrand herrscht noch Alltag. Auch hier schaut die Polizei zwar hin und wieder vorbei, doch die Pressevertreter, die Aktivisten für Interviews suchen, lässt man ungehindert in das jüngste Waldbesetzerdorf – genau wie die vielen Tagesausflügler und Neugierigen, die etwas über das Leben im Wald erfahren möchten.
Mit zwei solchen Besuchern steht ein junger Mann, der sich Strobo nennt, unter einem Baum, von dem ein Kletterseil herunterhängt. Alle drei tragen Klettergurte; die der Besucher sind in der Siedlung ausgeborgt. Fachkundig und detailliert beschreibt Strobo verschiedene Methoden des Einstiegs in ein Kletterseil, ihre Vor- und Nachteile und Gefahren, und lässt seine beiden Schüler dann selbst probieren. Ein Kletterworkshop als Last-Minute-Maßnahme im Angesicht der bevorstehenden Räumung?
„Das ist überhaupt nicht mein Gedanke dabei“, sagt der Zweiundzwanzigjährige. „Wenn ich hier Menschen Klettern beibringe, geht es nicht darum, quasi auch sofort den Lohn dafür einzustreichen. Es geht uns ja hier nicht nur um den Hambacher Wald, sondern um eine Kette von Zielen. Das, was ich hier tue, ist ein Beitrag zu einem größeren Ziel. Und das beginnt damit, ihnen zu zeigen, was sie selber können.“
Gerade nach dem Unfall, der erst drei Tage her ist, betont Strobo, wie ernst er die Verantwortung nimmt, wenn er andere Menschen in die Höhe schickt. „Ich habe selber den Einstieg im Wald gelernt, mich dann aber draußen mit erfahrenen Kletterern getroffen und es mir in Ruhe beibringen lassen. Als ich dann in den Wald zurückgekommen bin, konnte ich es schon.“
Wer in diesem Moment als Laie inmitten des geschäftigen Treibens am Boden der Siedlung steht, versteht die Dialoge ringsum kaum zur Hälfte. „Kann mir mal jemand 6er Polyprop runterwerfen?“, erklingt es nebenan, wo noch an einer Plattform gebaut wird, während Strobo seinen Schülern zeigt, wie man einen Prusik knotet.
„Materialkunde nehmen wir hier sehr ernst, lernen aber auch viel voneinander im Zusammenleben. Was wir hier jetzt noch an Workshops geben, kann nur ein Hineinschnuppern sein. Ich kann den Leuten zeigen, wie sie sicher rauf und runter kommen, würde mich aber sehr schlecht damit fühlen, wenn sie mit diesem Anfängerwissen dann allein losziehen würden. Und wenn die Polizei kommt, will ich nicht auf einem Baumhaus sitzen mit einer Person, die nicht klettern kann. Trotzdem ist der Ansturm, den wir jetzt erleben, wunderschön und gibt uns die Gelegenheit, auch jetzt noch einmal unsere Prinzipien zu demonstrieren: Unser Wissen zu teilen, aber auch einzuschätzen, wie damit umgegangen wird. Im Wald ist jeder für sich selbst verantwortlich, trotzdem geben alle gegenseitig aufeinander acht und helfen sich.“
Zwei Tage später wird Strobos Baumhaus geräumt. NRW-Innenminister Herbert Reul wirft den Aktivisten vor, die Pause nach dem Tod ihres Freundes auszunutzen, um neue Strukturen zu schaffen. Steffen Meyns Eltern bitten in der Todesanzeige, „im Sinne von Steffen“ von Trauerkleidung abzusehen und für die Aktivisten im Hambacher Wald zu spenden.
Es ist das fünfte Wochenende im September. Die Sonne ist wieder da, doch auf der kleinen Wiese vor dem Aachener Polizeipräsidium weht ein kalter Wind. Hier steht seit dem 13. September der „GeSa Support“. Abseits des Medienrummels im Wald nimmt eine Gruppe von Freiwilligen rund um die Uhr die Müden, die Wütenden und die Traumatisierten in Empfang, die nach ihrer Ingewahrsamnahme im Hambacher Wald aus der Gefangenensammelstelle (GeSa) entlassen werden. Ein Pavillon, ein Dixiklo, eine Biertischgarnitur: „Die Polizei hat uns den Raum, auf dem wir uns bewegen dürfen, mit Sprühkreide eingegrenzt“, sagt Jan Willen, dessen Schicht gerade zu Ende geht. „Es ist ein Akt, diese ehrenamtliche 24-Stunden-Präsenz zu organisieren. Aber wir erleben auch eine unfassbare Welle der Solidarität aus der Bevölkerung. Wir bekommen personelle Unterstützung, zunächst aus Mönchengladbach und Köln, inzwischen aus dem ganzen Bundesgebiet. Menschen bringen uns Spiele und Decken vorbei, kochen und backen für uns oder nehmen Geschirr zum Spülen mit nach Hause; neulich hat das Hotel auf der anderen Straßenseite uns Kaffee gebracht.“
Schon seit Jahren verfolgt der 57jährige Verwaltungsangestellte das Geschehen im Wald. „Dort habe ich oft diese Hilflosigkeit empfunden: Ich bin zwar hier, ich kann aber nicht auf Bäume klettern und vor Ort helfen. Das kann ich jetzt an diesem Ort. Anfangs war das für mich sehr seltsam, hier zu stehen und mein Gesicht zu zeigen, weil ich mit vielen der Polizisten, die hier vorbeigehen, beruflich zu tun habe. Aber inzwischen ist da nur noch Klarheit. Ich weiß genau was ich mache. Ich bin Teil eines Netzwerks, in dem sich Menschen vom TH-Professoren bis zum Handwerker zusammengefunden haben. Wir alle erfahren, dass man sich Dingen nicht nur passiv, sondern aktiv entgegenstellen kann. Ich kann selber etwas bewegen.“
Bis zum 5. Oktober ist die Mahnwache vor dem Präsidium angemeldet. Ob der Hambacher Wald bis dahin wirklich frei von allen Aktivisten ist, kann niemand sagen. Jan Willen und seine Mitstreiter sind darauf eingestellt, auch noch länger zu bleiben: „Es ist so beeindruckend zu sehen, wie die Menschen, wenn sie entlassen werden, auf ihre Bezugsgruppen warten, bis auch der letzte draußen ist. Es sind alte Hasen darunter, für die Repression nichts Neues ist. Die jungen, die das zum ersten Mal erleben, sind oft sehr getroffen. Und für uns steht fest: Wenn sie dieses Gebäude verlassen, soll keiner von ihnen alleine sein.“
(Text & Foto: Barbara Schnell)
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