„Nur mal kurz die Welt retten“: Brief an die Aachener Nachrichten zur Berichterstattung über die Klimaproteste im Juni

Sehr geehrter Herr Thelen,

vielen Dank noch einmal für Ihre Einladung in die Redaktion. Meine Frau und ich haben seit der Kündigung gewisse Phantomschmerzen, weil eine Zeitung am Morgen eine schöne Sache ist. Gestern habe ich die AN am Kiosk gekauft, um mir die Berichterstattung zu den Demonstrationen am Wochenende anzusehen – die Lust am Lesen ist mir dabei allerdings wieder vergangen.

Der Hauptgrund ist der Artikel Ihres Kollegen Marlon Gego auf der Deluxe-Seite 3. Dass Herr Gego kein Freund von Aktivisten ist, wusste ich ja schon von einem Austausch in der Vergangenheit. Dennoch ist der Artikel in der Ausgabe vom 24.6. ein gutes Beispiel für tendenziöse und unsaubere Berichterstattung.

Es fängt an mit der Phrase „Welt retten“ im Titel, die dann in verschiedenen Variationen drei mal in den ersten beide Absätzen und einmal am Ende vorkommt. Fünf mal „Welt retten“. Das ist eine Wortwahl, die nicht neutral ist, sondern die die Aktivisten von Ende Gelände verhöhnt und ihnen Naivität vorwirft. So etwas kann in einem Kommentar verwendet werden, aber nicht in einem Bericht auf Seite 3. Eine Diskussion zum Thema Wortwahl hatte ich mit Herrn Gego bereits vor einem Jahr. Entweder er hat sich das in keiner Weise zu Herzen genommen oder er hat kein Sprachgefühl.

Weiter geht es mit dem Satz: „Die fast zwei Tage währende Blockade der Hambachbahn in Neurath wertete die Staatsanwaltschaft Mönchengladbach gestern Morgen als Nötigung.“ Die offizielle Twitter-Account der Polizei Aachen meldete um 11:24 eine Neubewertung: Meldung der Polizei zur Neubewertung durch Staatsanwaltschaft MG

Ich weiß nicht, wann bei Ihnen Redaktionsschluss ist, aber selbst wenn dies schon um 11:30 der Fall wäre, hätte diese Stelle zwingend angepasst werden müssen, da dies eine substantiell andere Sachlage darstellt.

Dann heißt es: „Auf der einen Seite die Aktivisten von „Ende Gelände“, die sich bewusst und erneut gegen den friedlichen Protest entschlossen haben […].“ Dies ist falsch. Der Protest von Ende Gelände nutzte zivilen Ungehorsam, aber gewaltfrei und daher friedlich. Die Autoren sind in jedem Fall Belege für konkrete Gewalt durch Ende Gelände schuldig geblieben.

Es werden zwar acht verletzte Beamte angeführt, aber ohne Hinweis auf Art, Schwere und Ursache der Verletzungen. Es entsteht so der Eindruck als ob Polizisten von den Ende Gelände Aktivisten aktiv verletzt worden sind – dabei zählt auch ein umgeknickter Fuß oder ein Sonnenstich als Verletzung. Auf der anderen Seite verliert der Artikel kein Wort über Verletzungen auf Seite der Aktivisten. In anderen Medien findet man Berichte von schweren Verletzungen wie Augenhöhlenbruch und gebrochenen Armen. Wer die Bilder gesehen hat, wie ein Polizist seinen Helm durch das Gesicht eines Aktivisten zieht oder wie ein Senior von mehreren Beamten bekniet wird, den wundert das nicht.

Überhaupt: es gibt keinen Hauch von Kritik an der Polizei, an unverhältnismäßigem Einsatz von Gewalt, am Einsatz von Pfefferspray, oder an zumindest schleppender Versorgung eingekesselter Demonstranten. Hier ist die AN staatstragender als der WDR.

Dann „Bauer Willi“:

  • Die Aktivisten werden durch einen zitierten Tweet (!!) der Zerstörung von Möhren und Petersilie beschuldigt und eine Person mit einem für Ende Gelände unschmeichelhaften Satz zitiert. Haben die Autoren mit „Bauer Willi“ gesprochen? Hat man die Aktivistin bzw. die Pressekontakte von Ende Gelände befragt? Stimmt das Zitat? Unverifizierte Twitter-Zitate gehen wirklich gar nicht. Da brauch ich keine Zeitung für, das kann ich selber.
  • Eine Verifikation des Tweets hätte vielleicht schon am Sonntag ergeben, was „Bauer Willi“ in seinem Blog schreibt: “ Beim Petersilien-Feld ist kein erkennbarer Schaden entstanden, weil die schon abgeerntet war.“. Blog
  • Es wird weiterhin nicht erwähnt, dass Schäden auf Feldern, wie schon in der Vergangenheit, unbürokratisch von Ende Gelände beglichen werden.

Dann – und das ist wirklich das Schlimmste – die letzten vier Absätze, die wie folgt eingeleitet werden:

„Doch selbst wenn Deutschland umgehend klimaneutral würde, wenn der CO2-Ausstoss auf null reduziert würde, was würde das fürs Klima bedeuten? Und was wäre dafür der Preis?“ Die Fragestellung lässt schon erahnen in welche Richtung die Reise geht.

Es wird dann ernsthaft ein ehemaliger RWE-Mitarbeiter, nach den Kosten der Abschaltung von Kohlekraftwerken befragt. Auf so eine Idee muss man erst einmal kommen. Warum wählt man nicht einen unabhängigen Wissenschaftler/Experten? Sehen die Autoren keine Interessenskonflikte

Und wenn man schon nach dem – sicher nicht zu vernachlässigenden – Preis der Umstellung einer ganzen Volkswirtschaft fragt, warum fragt man dann nicht auch nach dem Preis des Nichtstuns?

Warum fragen die Autoren nicht nach den volkswirtschaftlichen Kosten einer Erwärmung um 2 Grad, 3 Grad, 4 Grad? Den Hitzetoten, der Trockenheit, Nahrungsmittelknappheit, dem Anstieg des Meeresspiegels und damit dem Verlust der Küstenregionen, Bauschäden, etc.. Rein monetär wird der Preis enorm, aber was wenn dann noch Hunderte Millionen Flüchtlinge aus Afrika (und ein paar Holländer) hinzu kommen? Wenn der Klimawandel nicht zumindest verlangsamt wird, gibt es bald das Jahr 2015 hoch 10. Das wird sich auf unsere Gesellschaft auswirken, wie ich es mir nicht ausmalen möchte. (Einen Vorgeschmack liefert der aktuelle Umgang der EU mit Ertrinkenden im Mittelmeer und der Aufstieg der AfD.)

Und dann kommt im Artikel das Killerargument der Defacto-Klimaleugner, nämlich das der deutsche Anteil an den weltweiten CO2-Emissionen nur 2% betrage (und damit implizit jede CO2-Reduktion Deutschlands sinnlos sei). Es ist wahr, dass alle Länder der Welt schnell CO2-neutral werden müssen. Aber wir eben auch und je früher wir anfangen, desto weniger schmerzhaft die Umstellung.

Am Ende heißt es: „Auch das ist wahrscheinlich ein Grund, aus dem der Umweltschutz in den meisten Teilen der Erde noch sehr viel zögerlicher angegangen wird als in Deutschland.“ Das ist überheblich und falsch. Sehr falsch sogar. Wer sich die Mühe einer Recherche macht, wird sehr schnell zu dem Schluss kommen, dass Deutschland schon lange kein Vorreiter beim Thema Umwelt- oder gar Klimaschutz ist. Hier die Top10 CO2-Emittenten in Europa. Das Kraftwerk Neurath allein bläst so viel CO2 in die Luft wie Dänemark.

Mehr Infos zum europäischen Vergleich finden Sie hier: European Environment Agency

Ich weiß nicht, ob Sie sich die Mühe gemacht haben bis hierhin zu lesen. Zusammengefasst ist der Artikel in wesentlichen Teilen tendenziös und sogar fehlerhaft. Viel schlimmer noch: die Verwendung bekannter Argumente der Leugner des Klimawandels lässt den Eindruck entstehen, als ob die Redaktion der AN nicht begreift, dass es tatsächlich um unsere nackte Existenz geht.

Der Klimawandel ist in vollem Gang. Hat die AN schon darüber berichtet, dass in Indiens Millionenstädten das Wasser ausgeht? Bei 50 Grad über Wochen? Das es diesen Sommer am Polarkreis 30 Grad warm war? Das die Arktis jedes Jahr mehr Eis verliert? Das das gleiche in der Antarktis passiert? Das dies nicht nur einen Meeresspiegelanstieg sondern weitere Erwärmung bedeutet? Das die Permafrostböden auftauen und massiv das Treibhausgas Methan freigeben? Kennen Ihre Leser die aktuelle CO2-Konzentration und den beispiellos schnellen Anstieg der letzten 50 Jahre? Wie wird sich die Vegetation in Aachen ändern, welche Bäume muss die Stadt jetzt anpflanzen, damit in 10 Jahren noch etwas grünt? Was macht die Stadt/die STAWAG bzgl. Solarstrom auf Dächern von öffentlichen Gebäuden? Was ist mit Ladesäulen für E-Autos? Müssen die Schulen klimatisiert werden, wenn in Zukunft die aktuellen Temperaturen über Wochen die Normalität des Sommers darstellen?

Sie als Chefredakteur tragen die Verantwortung für den Inhalt Ihrer Zeitung und in einem gewissen Sinne auch für die Bürger von Aachen. Stellen Sie den Verantwortlichen in Rat und Verwaltung die richtigen Fragen und bohren Sie nach. Nur dann macht eine Zeitung Sinn. Die Hauspostille von RWE brauch ich nicht.

Mit freundlichen Grüßen

Michael Wallbaum

 

PS: Ich war sowohl am Freitag als auch am Samstag mit der ganzen Familie auf den Demonstrationen und dort als Ordner tätig. Es war ein wirklich tolles und friedliches Wochenende mit vielen netten Menschen – auch von Ende Gelände.

PPS: Auf der Titelseite heißt es übrigens: „Schulterschluss von Ende Gelände und Fridays for Future gelingt nur teilweise“ und im Text wird dieses Statement damit begründet, dass die Schüler nicht mit in die Grube geklettert seien. Auch dies ist schlecht informiert oder sehr seltsam dargestellt. In der Sache (Abschaltung der Kohlekraftwerke) sind sich Ende Gelände und FFF absolut einig. Die aktuellen Protestformen von FFF sehen jedoch keinen zivilen Ungehorsam vor. Ein Grubengang der FFF war nie geplant und es wurde den Ordnern bei der Einweisung SEHR deutlich gemacht darauf zu achten, dass sich keine Kinder an der Aktion von Ende Gelände beteiligen.